Telefonklingeln abends um 20:30 Uhr.
Unnötig zu sagen, dass ich um diese Tageszeit eher sprechfaul bin und froh über die Stille, die sich nach dem Zubettbringen der beiden Kinder hier ausbreitet. Ausbreiten sollte.
Aber man ist ja nett und geht ans Telefon.
Zuhören ist bei Leuten mit echter Aussage auch was ganz Tolles und kann höchst angenehm unterhaltsam sein.
Oh, eine alte Schulfreundin am Telefon! Ich freue mich, denn allzuoft haben wir nicht die Gelegenheit, mal miteinander zu plauschen.
Aber aus dem gemütlichen Plausch wird nichts. Ich finde mich ratzfatz und ungefragt in einem Verkaufsgespräch wieder.
Worum es gehe? Ob ich mich abends auch immer so erschöpft fühle?
- Ja klar, alles andere würde bei meinem Tagespensum auch auf Missbrauch von Aufputschmitteln oder exzessiven Kaffeeabusus hinweisen.
Leider wurde über meinen Witz nicht gelacht.
Meine abendliche Erschöpfung liegt also nicht in meiner Alltagsarbeit als überwiegend alleinerziehendes Muttertier, gewerbliche Seifensiederin, Kursdozentin, Kindertaxifahrerin, Wochenendehefrau, kreativem Gemischtwarenladen, Forumsmoderatorin und eher mittelprächtiger Hausfrau, sondern schlichtweg daran, dass ich die falschen Vitamine nehme. Beziehungsweise dass ich nur die Vitamine zu mir nehme, die im Essen vorkommen.
Aha.
Und neulich hätte sie das hohe Fieber ihres Kindes mit zwei Vitamin-C-Tabletten bekämpft, und zwar erfolgreich.
Und während ich mir den Bericht der Wunderheilung anhöre, befasst sich mein
Ja, und da ich doch nicht nur meiner Familie damit etwas richtig Gutes täte, sondern auch noch einen tollen Nebenverdienst machen könne, hätte sie mich angerufen.
Oh, ein Strukturvertrieb, der sich als Menschenwohltäter tarnt! Wie ich sie liebe.
Meistens verdienen nur die dicken Fische ganz oben und die, die sich für die Basis direkt am Kunden halten, sind in Wirklichkeit selbst das Fischfutter für die großen.
Ich will es gerade aussprechen, da kommt der nächste Redeschwall.
Mist, ich bin wirklich zu einem Zeitpunkt erwischt worden, wo ich sprechlahm bin.
Und das Zeug sei ja so toll, und wogegen es alles helfen würde...Falten, Krebs, abendliche Erschöpfung (man ist damit dann nicht mehr erschöpft, sondern nur noch müde!), allgemeine Erkältungen, rissige Lippen.
Insgeheim grüble ich, dass ich noch nie rissige Lippen hatte und höchstens zweimal jährlich den obligatorischen Schnupfen absolviere, ansonsten aber strunzgesund bin und auch strunzgesunde Kinder habe. Eigentlich brauche ich nur etwas gegen meine 15kg Stresspolster und ein Mittel, das meinem Hintern hilft, den bereits verlorenen Kampf gegen die Schwerkraft noch einmal erfolgreich aufzunehmen.
Ja, und ob ich nicht mal zu so einer Ernährungsinformationsveranstaltungsdingsbumsgeschichte gehen wolle. Extra am Wochenende.
Nö, da bin ich lieber daheim und genieße die wenigen Stunden Eheleben, die ich mit meinem Mann habe.
Ach, und was ich denn davon halte?
Gar nichts. Strukturvertriebe kenne ich zur Genüge.
Es gibt gute und schlechte, und die schlechten überwiegen leider häufig. Das sind jene Strukis, wo die oben den Rahm abschöpfen und ständig neue Leute geworben werden müssen auf Teufel-komm-raus, damit auch die Leute an der Basis irgendwann mal etwas von ihrer Arbeit haben.
Immer da, wo das meisten Geld durch Neuwerbungen und weniger durch Produktverkauf verdient wird, sollte man mit gesundem Misstrauen die Margen und das Geschäftsmodell hinterfragen. Und das vermisse ich leider regelmäßig bei vielen Leuten, die mir vor Begeisterung brennend ihre absolut tolle und großartige Geldverdienstmöglichkeit vorstellen.
In einer klassischen Firma kann man (zumindest als Mann) einigermaßen planbar nach oben aufsteigen und Karriere machen, indem man sich Position um Position hocharbeitet. Hier kann man nur insofern aufsteigen, indem man sich durch Neuwerbungen von Leuten, die unterhalb von einem einsteigen, eine eigene Abteilung aufbaut und sich dann selbst zum Leiter derselben macht. Und irgendwann ist das Wachstum am Ende, weil der Markt abgegrast ist und fast jeder mindestens drei Leute kennt, die irgendwo zu einer Basisgruppe gehören oder die selbst dabei sind. Kaum einer kommt über die zweite Ebene, von unten gezählt, hinaus.
Die Leute kommen wie Adler und gehen wie Suppenhühner. Wenn ich mich an "Herbert Live" in den 90ern erinnere oder an "eL-eR", an "AmWeg", an diese ganzen Aloe-Produktvertriebe und die verschiedenen Kosmetik-Strukies...
Wie oft habe ich es erlebt, dass die Leute von dem Produkt überzeugt waren und dann erstmal in die Warm-Akquise starteten und den kompletten Freundes- und Familienkreis bequatschten. Und jedesmal ging es nicht nur um den Produktverkauf, sondern schon im nächsten Atemzug darum, diese Person dann als nächstes Gruppenmitglied zu werben.
In dieser Ebene wird noch am einfachsten etwas verkauft. Weil man als Verkäufer durch die persönliche Beziehung schon einen Fuß in der Tür hat und oft auch, weil man den Verkäufer einfach nicht vor den Kopf stoßen möchte.
Die halbwarme Akquise schließt dann beispielsweise die Leute ein, die man vom Sehen kennt. Da wird dann die Bäckereifachverkäuferin angesprochen oder der Schornsteinfeger, wenn er zum Kehren kommt. Oder die Mutter, die mit einem vorm Kindergarten wartet.
Als Kaltakquise bezeichnet man dann das Ansprechen von Leuten, die man noch nicht kennt. Beispielsweise auf Messeveranstaltungen oder auch durch das Klinkenputzen, also das Von-Haus-zu-Haus-gehen. Typ Staubsaugervertreter oder "der Weltuntergang ist mal wieder angekündigt"/"Spende für Wanderzirkus". Sehr beliebt.
Bei den meisten Neueinsteigern endet die Verkaufskarriere irgendwo in der halbwarmen Phase, weil dann einfach keine Neuwerbungen hinzukommen. Warum wohl?
Lohnt es sich wirklich, dafür sein soziales Umfeld zu vergrätzen?
Abschließend fällt mir noch ein höchst interessantes Kapitel der deutschen Geschichte ein:
Schon die Nationalsozialisten waren sehr große Vitamin-Fans und hielten sie für das pauschale Wundermittel.
So wurden ab 1940 tonnenweise Vitamin C produziert und an Frontsoldaten, aber auch an Säuglinge, Kinder, Mütter und Schwerstarbeiter verteilt, um die Volksgesundheit und Wehrkraft zu erhöhen.
Schon in den dreißiger Jahren wurden Hausfrauen dazu angehalten, durch das Sammeln und Haltbarmachen von Früchten wie Hagebutten, Sanddornbeeren und anderen pflanzlichen Lieferanten die Vitaminversorgung zu verbessern.
Für die SS wurde sogar Vitamin C aus Gladiolen gewonnen und exklusiv den Mitgliedern dieser Gruppe vorbehalten. (Quelle: Spiegel-online)
Aber genug gestichelt über den Vitamin-Nahrungsergänzungs-Fimmel.
Ich persönlich mag dann doch lieber echtes Obst und Gemüse, das sieht hübscher aus und schmeckt besser.
Und halte mich ans Motto "nimm mal lieber die Möhrchen!".
Lecker!