Freitag, 28. September 2012

Wie erkläre ich etwas, das ich selbst nicht verstehe?

Gestern Mittag im Auto.
Nachrichten auf NDR2.

Im Jahr 2006 hat man ein kleines neugeborenes Mädchen tot im Papiermüll gefunden.
Ein Jahr später findet man einen kleinen neugeborenen Jungen, ebenfalls tot, auf einem Rastplatz an der B201.
DNA-Tests erweisen, dass beide toten Kinder Geschwister sind.

Die Ermittler starten einen DNA-Test. Aber die Mühlen mahlen langsam und gründlich. Zu langsam. Anhand der Adressen aus der Wagenladung Papiermüll kann man einen bestimmten räumlichen Bereich eingrenzen, auch der Fundort in Silberstedt bestätigt diese Eingrenzung.

6 Jahre später wird endlich ein DNA-Test durchgeführt. Sehr viele Frauen nehmen daran teil.
Dann stellt sich die 28jährige Frau, die ihre beiden Kinder nach der Geburt getötet und weggeworfen hat. Sie hat noch drei weitere Babyleichen im Keller, jüngere Geschwister.
Und im schönen Einfamilienhaus, wo sie mit ihrem Ehemann wohnt, leben zwei gemeinsame Kinder von 8 und 10 Jahren, die nicht ahnen, dass sie 5 tote jüngere Geschwister haben.

Ihr Mann will nichts von den Schwangerschaften bemerkt haben, ebenso ihr persönliches Umfeld. Sie behauptet, sie hätte die Kinder getötet, weil sie befürchtet hatte, ihr Mann würde sie bei einem weiteren Kind im Haushalt verlassen und ihren guten Lebensstandard beenden.

Der Sprecher im Radio sagt, dass diese Verhaftung wahrscheinlich dafür gesorgt hat, dass nicht noch mehr Babys nach der Geburt getötet würden.

Ich befinde mich auf der Bundesstraße, habe beide Kinder hinten im Auto sitzen. Während der Kleine interessiert die Kühe und Windmühlen betrachtet, sehe ich in das Gesicht meines Fünfjährigen.

"Wie geht es dir?"
Er tut unbeteiligt. Guckt aus dem Fenster, wie mir der Blick in den Rückspiegel zeigt.
"Gut, Mama."
Ich glaube ihm nicht. Ich kenne diesen Tonfall, der so harmlos klingt und alle meine Alarmglocken schrillen lässt.
"Hast du eben die Nachrichten gehört?"
"Nein, Mama."
Konzentrierter Blick aus der hinteren Seitenscheibe, scheinbar sind die vorbeiziehenden Windmühlen draußen sehr interessant. Als wenn die Antwort auf seine Fragen da draußen zu finden sei.
Minuten später dann die befürchtete Frage:
"Mama, warum hat die das getan? Die Frau mit den Babys? Warum macht sie sie tot und schmeißt sie weg wie Müll?"

Es gibt Momente, da zerreißt es einem das Herz. Ganz still, leise und unblutig. Aber die Narben bleiben ewig.

"Ich weiß es nicht, Krümel. Ich glaube, das kann einem keiner wirklich erklären, kein Arzt, kein Pastor. Wenn jemand sowas tut, dann bleiben nur offene Fragen zurück und es gibt keine Antworten darauf."

Schweigen. Kann ich eine Brücke zu seinem Herzen bauen, ihm in dieser Sekunde den Rücken nachhaltig stärken?

"Krümel, diese Frau war krank im Kopf und im Herzen. Die konnte weder vernünftig denken noch war ihr Herz in der Lage, diese Kinder zu lieben. Die hat nur gesehen, dass sie sie nicht gewollt hat, und sie einfach weggeschmissen. Sie hat das Wertvollste weggeworfen, was sie hätte haben können.

Mach dir keine Sorgen, mein Liebling. Du wirst geliebt. Von der allerersten Sekunde an. Ich liebe dich, dein Vater liebt dich, dein Bruder, deine ganze Familie und deine Freunde. Und Gott liebt dich. Und dein Bruder Kröte wird genauso geliebt. Ihr seid in Sicherheit."

Ich blicke über die Schulter. Seine blauen Augen wirken so dunkel in diesem Moment, sein ganzer klapperdürrer Körper drückt Trauer aus um jene Kinder, die nicht dasselbe Glück hatten wie er.

Mein Gott, er ist fünf Jahre jung. Viel zu jung für diese Bürde, sich mit sowas auseinandersetzen zu müssen. Dinge verstehen oder wenigstens stehenlassen zu können, die nicht mal ich verstehen oder einfach hinnehmen kann.
Dieses Kind ist zu wach, zu aufmerksam. Diese Gabe wird ihm noch oft Leid zufügen, bis ich ihm hoffentlich beigebracht habe, wie er damit besser umgehen kann.

Und dann kann ich ihn nicht einmal in den Arm nehmen und seine Tränen wegwischen, weil ich vorn am Steuer sitze und er hinten auf der Rückbank. Aber eine Hand von mir findet den Weg nach hinten, erwischt ein knochiges Kinderknie und streichelt es.

Langsam legt sich eine kleine warme Kinderhand auf meine.
Wir werden es gemeinsam schaffen. Eines Tages werde ich die richtigen Antworten finden oder ihm zumindest helfen können, diese Sensibilität richtig zu handhaben.
Bis dahin kann ich nur bei ihm sein und versuchen, ihn durch meine Nähe zu stärken. Und durch den Umstand, dass ich genauso verletzlich bin und trotzdem weitermache, und dass er das deswegen auch kann.
Und ich werde die Nachrichten im Radio ausschalten.

10 Kommentare:

  1. Ich kenne dieses Gefühl so gut......
    Jonas ist heute ein kotziges Pubertier...
    Aber im Grunde seines Herzens so weich..
    Bettler in Ägypten haben seine Seele so berührt und jeder Musiker auf der Straße bekommt von Ihm etwas...
    eine Begebenheit ist in meiner Seele eingebrannt
    Ein Plakat beim Bäker im Baumarkt..er war 5
    Wir wollten Brot kaufen und er hatte Tränen in den Augen..und sagte, er wartet im Auto.......ich wusste nicht, was los war...hab einen Abend gebraucht mit Ihm...
    Auf dem Plakat war ein Nachkriegskind,kurze Hose, Wollsocken, ärmlich aber superglücklich mit einem Stück Brot.. Dieses Bild hat den 5 jährigen so traurig, nachdenklich gemacht...
    und ich war wütend über diese Art der Werbung

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  2. Sensible Kinder haben's immer schwerer und sensible Erwachsene auch. Trotzdem ist es eine der wertvollsten und schönsten Eigenschaften eines Menschen ob groß oder klein und auf manches werden wir wohl nie eine Antwort finden und vielleicht ist das manchmal auch gut so. Ich bin bei solchen Meldungen auch immer fassungslos.
    Liebe Grüße

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  3. Hierzu kann ich gar nicht schreiben, außer dass mich dein Post tief bewegt hat und das ich denke du machst das richtig.

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  4. "Diese Frau ist krank in Kopf und Herz" war schon die richtige Zusammenfassung. Es läuft eben ein kleiner Prozentsatz psychisch kranker Leute herum.
    Alle, ob Kind oder Erwachsener, stehen ratlos vor solchen Nachrichten, ich weiß. Wir haben es im tv auch mitgekriegt. Es ist dann mucksmäuschenstill im Raum.
    Deine Kinder werden verstehen, dass das nicht normal ist.

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  5. Deine Worte haben mich tief berührt, mit Tränen in den Augen schreibe ich diese Zeilen. Diese Deine Worte, die tief ins Herz gehen - Du machst alles richtig! Wir können nur das Beste für unsere Kinder wollen und tun und sie im Wissen geliebt zu werden wiegen und aufwachsen lassen.

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  6. Ich habe Deine Jungs als fröhliche 'Bengels' kennenlernen dürfen und es ist traurig, dass sie solche Nachrichten hören müssen. Es ist traurig, dass es solche Nachrichten gibt aber Antworten auf die Fragen Deines Fünfjährigen können wir nicht geben. Ich denke, dass nicht einmal die Täterin plausible Antworten geben kann.

    Es ist wichtig, dass Kinder behütet und geliebt aufwachsen. Trotzdem darf man meiner Meinung nach die reale Welt nicht vollkommen von ihnen fernhalten. Denn sonst ist der Schock zu einem späteren Zeitpunkt zu groß. Denn die Welt da draußen ist leider nicht immer nur schön.

    Ich denke aber, dass Du den richtigen Spagat finden wirst!

    GLG
    Dagmar

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  7. Besser konntest du deinem Sohn nicht antworten. Ich weiß nicht was ich geantwortet hätte.
    Mich macht es Ohnmächtig mitzuerleben wie jemand ein Kind in den Müll wirft. Vielleicht liegt es daran, das ich trotz großem Kinderwunsch nie welche bekommen habe.
    Paß auf euch auf,
    Marina

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  8. Besser konntest du deinem Sohn nicht antworten. Ich weiß nicht was ich geantwortet hätte.
    Mich macht es Ohnmächtig mitzuerleben wie jemand ein Kind in den Müll wirft. Vielleicht liegt es daran, das ich trotz großem Kinderwunsch nie welche bekommen habe.
    Paß auf euch auf,
    Marina

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  9. Ich sitze grad mit meinem zehn Wochen alten Wicht vor dem Bauch am Pferdeplatz und genieße die noch wärmenden Sonnenstrahlen, und ich muss währenddessen meine Tränen wegplinkern...
    Ich warte förmlich jede Sekunde auf ähnliche Situationen mit meiner Großen- fast 3. Sie erzählt mir derzeit jede. Morgen auf dem Weg zum Kiga, dass im Auto noch ein Platz für Klara frei ist.
    Klara war krank. das versteht meine Große. Wie ich ihr allerdings solche Nachrichten erklären soll- keine Ahnung.
    Ich danke dir für diesen post! er macht mir mal wieder klar, wie gut ich und meine Familie es haben,auch wenn da einige Sensibelchen manchmal aneinander prallen.

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  10. jedes wort, jede einzelne zeile, jeder BUCHSTABE, den du hier geschrieben hast ist für mich so nachvollziehbar, es ist, als hättest du von mir und meinem jüngsten erzählt. ich hab ihn und mich gesehen, als ich deine wunderbar warmen worte gelesen habe.
    du bist eine wundervolle mami.
    ich hoffe, du weißt das!

    nora

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